« Et les grands cris de l’Est »

Worauf beruht der Erfolg eines Künstlers außerhalb seines Herkunftslandes? Beeinflussen die Erwartungen eines ausländischen Publikums die Rezeption eines Werkes? Um die Veränderungen zu erklären, denen das Verständnis einer künstlerischen Produktion vor verschiedenen nationalen Hintergründen unterliegt, wurde häufig die Idee des »produktiven Missverständnisses« herangezogen. Könnte dieses Phänomen den Erfolg von Robert Delaunay in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg erklären? Trotz der starken nationalistischen Spannungen ist der orphische Maler dort einer der berühmtesten Künstler. Im Laufe des Jahres 1913 reist er zwei Mal nach Berlin und stellt dort mit Hilfe von Herwarth Walden, Galerist und Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm, aus. Besondere Begeisterung wecken seine Werke bei drei sehr unterschiedlichen expressionistischen Künstlern, deren Arbeiten sich auf den ersten Blick stark von denen des Franzosen zu unterscheiden scheinen: den Malern Ludwig Meidner und Lyonel Feininger sowie dem Architekten Bruno Taut.

Das vorliegende Buch zeichnet detailliert nach, was von Delaunays Werk damals in der deutschen Hauptstadt gelesen und gesehen wurde. Anhand der Untersuchung der kritischen Rezeption des französischen Malers bei drei bedeutenden Figuren der Berliner Kunstszene diskutiert die Autorin die Ausgangsfrage, inwieweit der nationalspezifische kulturelle Kontext das Verständnis eines Werkes behindert oder seine Interpretationen systematisch beeinflusst. Sophie Goetzmann überwindet mit dieser Arbeit die nationalen Vorurteile, die die ästhetischen Debatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nähren und die Kunstgeschichte bis heute durchdringen. Auf diesem Wege offenbart sie uns die unerwarteten Verbindungen, die die als Orphismus und Expressionismus bezeichneten Avantgarden über Grenzen hinweg vereinen.