Médiations ou le métier de germaniste
| , ,Chapitre 3. Influences et présences
Reflexion der Tradition
Kleists Lustspiel nach Molière
Texte intégral
1Es ist nichts Neues festzustellen – denn bereits Goethe hat es bemerkt –, dass Kleists Zutat zu Molières Verwechslungskomödie Amphitryon die Verwirrung der Gefühle ist:
- 1 Johann Wolfgang Goethe, Weimarer Ausgabe, Abt.III, Band 3, Weimar 1889, S. 239 (Tagebuch).
„Molière lässt den Unterschied zwischen Gemahl und Liebhaber vortreten, also eigentlich nur ein Gegenstand des Geistes, des Witzes und zarter Weltbemerkung. […] Kleist geht bei den Hauptpersonen auf die Verwirrung des Gefühls hinaus.“1
2Damit hat Goethe den Ton angegeben für eine lange Reihe von Interpretationen, die dem Problem des Vertrauens und Mißtrauens, der Sicherheit und Unsicherheit des Gefühls im Werk Kleists nachspüren, einem Problem, dessen Thema Kleist selbst in seinem ersten Drama, der Familie Schroffenstein, so deutlich und wörtlich genannt hat, daß seine Existenz als Aspekt seines gesamten Werks auf keinen Fall zu leugnen ist.
3Dennoch sollte gerade der ins Auge springende Unterschied jener beiden Bearbeitungen des antiken Stoffes ebenso wie die Deutlichkeit, mit der Kleist auch hier wieder den Interpreten führt, zu der Frage veranlassen, ob nicht doch hinter dem Problem ein Problem verborgen sei. Muß der Ernst, mit dem Kleist die Molièresche Vorlage angeht, nicht eher seinen Grund haben in einer Frage, die diese Komödie stellt, als in dem oberflächlichen Anreiz zur Variation oder ‘Verbesserung’ eines weltliterarischen Motivs ? Konnte es das einzige Interesse Kleists sein, den pikanten Stoff in ein bürgerliches Gefühls‑Melodram zu verwandeln? Hatte er nicht in Molières Stück selbst, und nicht etwa in der schon oft bearbeiteten Fabel, ein Problem erkannt, für das die „Verwirrung der Gefühle“ erst die ‘Lösung’ ist? Kurz: die Bearbeitung eines Werkes kann nicht lediglich seine Veränderung, seine Modernisierung sein; jeder Stoff ist zu jeder Zeit beliebig aktualisierbar; vielmehr muß das Spezifische der Vorlage als Anfang und Ursprung der Bearbeitung im neuentstandenen Werk wirkend bleiben. Ein Vergleich zweier motivgleicher Werke kann sich daher nicht ausschließlich auf die Darstellung der Variation eines Stoffes beschränken, sondern muß nach der Interpretation der Vorlage suchen. An die Stelle einer additiven Reihe von Veränderungen eines Motivs tritt so eine ‘erkennende’ Literaturgeschichte, in der das folgende Werk das vorangehende dadurch überholt, daß es es besser versteht als dieses sich selbst verstanden hat.
4Eine solche Vollendung des Werks durch Weiterführung der in ihm angelegten Reflexion hat erstmals Friedrich Schlegel in der Rezension des «Wilhelm Meister» formuliert.
- 3 Peter Szondi, Amphitryon, Kleists ‘Lustspiel nach Molière’, in: Szondi, Satz und Gegensatz, Frankfu (...)
- 4 Hans Robert Jauss, Poetik und Problematik von Identität und Rolle in der Geschichte des Amphitryon (...)
- 5 Max Kommerell, Die Sprache und das Unaussprechliche, in: Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtun (...)
- 6 Szondi 1.c., S. 52.
- 7 Ibidem, S. 56.
5Wir dürfen annehmen, daß sich in ihr ein Verständnis von literarischer Rezeption und Tradition aussprach, dem mehr oder weniger deutlich die Dichter in der Zeit des deutschen Idealismus verpflichtet waren. Im Schlegelschen Sinne, der die Bearbeitung als erkennende Interpretation der Vorlage begreift, scheint Szondi Kleists Umgang mit dem Molièreschen Amphitryon genauer zu treffen als andere Interpreten, wenn er es als Thematisierung des Erkenntnisvermögens beschreibt, welche die «Aura der Ungewissheit»3 der Handlung hervortreibe. In der je einzelnen Figur manifestiert sich dieses philosophische Problem weniger als Verwirrung des Gefühls, denn als Identitätskrise, wie sie Szondi und in seiner Nachfolge Jauss darstellen4. Wie schon die divinatorische Interpretation Max Kommerells hervorhebt, ist das Verhör eines der Hauptmotive Kleists5; ähnlich bemerkt Szondi über den Amphitryon: „Die Vorstellung des Prüfens durchzieht aber das ganze Werk“6. Verhör und Selbstbefragung sind die Mittel der dramatisch‑dialogischen Darstellung des philosophischen Problems der verunsicherten Identität. Für Kommerell ist das Verhör der Weg, die Figur zur Kenntnis ihrer selbst zu führen, ihre im Unbewußten versunkene und unerkannte Identität überhaupt erst zu konstituieren. Für Szondi hingegen ist die Prüfung der Anfang einer Konfusion der Figur, die sogar ihre Identität zu zerstören droht. Der scheinbare Widerspruch beider Interpretationen resultiert aus dem Gegenstand der Interpretation: Kommerell gewinnt sein Ergebnis vor allem am Käthchen von Heilbronn, Szondi aus der Interpretation des Amphitryon, hier besonders der Alkmene. Kleist hat sie, im Unterschied zu Molière, zur Hauptfigur des Dramas gemacht. Daher scheint das Eheproblem in den Vordergrund zu treten, speziell die Frage nach Alkmenes Treue, Szondi erkennt, daß diese Frage falsch gestellt ist, da „ihr Bewusstsein jedesmal ein anderes ist“7, sie also gar keine Identität besitzt, demnach auch keine eheliche Treue kennen kann.
- 8 Vgl. dazu Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, in: Cassirer, Idee und (...)
6Das Bewußtsein ist jedesmal ein anderes – dies ist das Thema, das der mit Fichtes Identitätsphilosophie beschäftigte Kleist8 in der Familie Schroffenstein überdeutlich abhandelt. Dies Drama ist das Drama des sich stets aufs Neue und anders, meist zum Falschen entscheidenden Bewußtseins. Kleist gibt ein Faktum vor: und die Tragödie vollzieht sich nun als Versuch der Auslegung dieser Tatsache durch alle dramatis personae; die Katastrophe entsteht aus dem vagen Hin‑ und Her‑Überlegen, aus dem Unvermögen, Indizien und damit das Faktum selbst zu greifen, aus dem entscheidungslosen Abwägen, währenddessen dieses Faktum immer mehr ins Nichts zerrinnt und die Figuren aus lauter Interpretationswut verwirrt aufeinander losschlagen. Es ist nicht die Verwirrung der Gefühle und das Mißtrauen gegeneinander, was die Tragödie vorantreibt, vielmehr ist es eine Blindheit, mit der die Figuren geschlagen sind, so daß sie keine Wirklichkeit mehr greifen können. Sie haben keine Identität, da ihnen Welt – auch in ihrem Partner – als Nicht‑Identität fehlt, haben also auch keine Gefühle, die verwirrt sein könnten. Am deutlichsten zeigt sich die Unfaßbarkeit, ja eigentlich das Nicht‑Vorhandensein eines Faktums im zentralen Dialog der Liebenden Agnes und Ottokar, wo beide die ‘Ereignisse’, jeder aus seiner Perspektive, darstellen, jeder aber vom anderen widerlegt werden kann. Das gleiche Ereignis erscheint hier zweimal und in gegensätzlicher Deutung:
„Soll ich nun deinem Vater mehr,
Als du dem meinen traun?“ (1395f),
sind die verunsichernden Fragen, die sich beide stellen müssen.
„Es könnte sein,
Wär möglich, hab den Anschein fast“ (463f)
7ist das Motto dieser Tragödie des Gerüchts; die Macht der Fama behauptet sich gerade deshalb, weil es das Faktum, wie sich am Schluß der Tragödie herausstellt, gar nicht gibt. Die Personen treten in Relation zueinander nur durch Worte, welche Geschehnisse interpretieren, nicht durch diese selbst.
- 10 Vgl. dazu Jauss l.c., S. 31: die Frage der Identität müsse sich „nicht mehr an der Instanz des Selb (...)
8Nicht aber die Tragödie ist der herkömmliche Ort, wo Figuren um bloße Worte miteinander ‘rechten’. Dieser ist die Komödie. Hat man bislang so interpretiert, als seien bei Kleist die „Verwirrung des Gefühls“, die Verunsicherung des Erkenntnisvermögens, die Zerstörung der Identität das Schicksal einer bestimmten dramatischen Individualität (Alkmenes, Penthesileas, Käthchens), so wird nun zu zeigen sein, daß das dramatische ‘Problem’ gerade nicht im Inneren der Figur liegt, sondern Folge des Bezugs der Figuren aufeinander ist10. Relation an sich, ‘reine’ Relation aber stellt sich her im puren Dialog der Worte. Das ist der Fall in der Komödie. Das Wohlbehagen der traditionellen komischen Figur gründet darin, daß sich die witzige Inversion lediglich als Wortspiel vollzieht. Die bei Kleist durchgängige Verwirrung der Figuren aber ist die Folge des ‘Mißbrauchs’ der komischen Inversion. Die Kleistsche Figur verunsichert sich, indem sie den Wortwechsel in sich hineinverlegt, indem sie die verschiedenen Dialoge erinnert, internalisiert und aus dem Gedächtnis zum Gedanken kommt, der stets verwirrt, wo die komische Figur doch nur zu reden hatte. Die dramatis personae der Komödie sind sprechende Rollen, die Kleistschen Figuren probieren im Sprechen Rollen aus. Sie reagieren nicht auf äußere Ereignisse, sie reagieren aufeinander; nicht also ein Geschehen, sondern abstrakte Kommunikation, stets wechselnde und wechselseitige Bestimmung der Figuren durcheinander bewegt die dramatis personae.
9Nirgends konnte Kleist die Ausdeutung der dramatischen Figuren unendlicher variabel finden als in Molières Komödie Amphitryon. Die Verdoppelungen der Figuren eröffnet unzählige Kombinationsmöglichkeiten. Es ist nicht zu monieren, wie Gundolf es tut, daß Kleist von Molière ‘nur’ die Szenenfolge habe übernehmen können. Dies nämlich ist gerade der springende Punkt seiner Adaptation. Die Szenen sind bereits bei Molière so arrangiert, daß alle darin handelnden Personen kommentierend sich gegenseitig aufheben müssen.
- 11 Ich zitiere mit Verszahlen nach der Ausgabe, Molière, Oeuvres complètes, Band 3, hsg. von Georges M (...)
10Der eröffnenden Szene in Molières Amphitryon, Mercure ‑ Sosie, in der Sosies Identität durch sein Double in Frage gestellt wird, antwortet die folgende Szene Jupiter ‑ Alcmène, in der Alcmène sich ihrer Treue zu Amphitryon rühmt. Alcmène tut dies zu Unrecht, da ihr ja ein falscher Amphitryon begegnet ist; umgekehrt aber zweifelt Sosie zu Unrecht an seiner Identität, da ihm der falsche Sosie aufgelauert hat. Beide Male sind die Partner irre geleitet durch einen Gott, beide Male entschließen sie sich anders als sie es sollten: gegen oder für sich. – Der zweiten Szene, die den Preis der ehelichen Treue enthält, antwortet die dritte zwischen Cléanthis und Mercure, in der der falsche Ehemann (der allerdings im Unterschied zu Jupiter die Ehefrau nicht verführt hat), alle Vorzüge eines ehelichen Seitensprungs, insbesondere für den Gatten, preist: „Moins d’honneur, et plus de repos“(676)11. Vorausweisend deutet die Szene auf den eifersüchtigen Amphitryon, dessen Leiden dem Bedürfnis nach psychischer Einzigkeit seiner Liebe entspringt, während Mercure an ihr nur die physische Seite sieht, und diese gar als ‘Arbeit’. Amphitryon wird die verstörte Lust repräsentieren, wo Mercure die körperlichen Anstrengungen demonstriert.
11So knüpft sich eine Szene an die andere, die vorangehende durch Inversion, Perversion, Verdrehung, Parodie vernichtend; bis hin zu dem Punkt, wo nun Kleist durch eine entschiedene Änderung in Molières Werk eingreift. Gerade da aber zeigt sich, wie sehr die Molièresche Vorlage Bedingung seiner Arbeit gewesen ist. Die Szenen II, 6 und II, 7 im Molièreschen Amphitryon beziehen sich aufeinander wie eine Kontrafaktur des genus grande im genus humile: der scheinbare Zank zwischen Jupiter und Alcmène, friedlich beigelegt durch die Liebe und Nachgiebigkeit der Fürstin, wiederholt sich im niederen genre zwischen Cléanthis und Sosie als wahrhafter Ehestreit. Diese burleske Schwankszene degradiert im Nachhinein den Liebesstreit der hohen Figuren zum komischen Intermezzo. Kleist läßt nun aber diesen beiden Szenen jene vorangehen, in der Alkmene zu ihrer Verwirrung auf dem Diadem das Zeichen des Jupiter entdeckt. Mit diesem Gegenstand führt Kleist, im Unterschied zu den stets mehrdeutigen Worten, ein unumstößliches Faktum ein. Indem es von Hand zu Hand geht – jede Person des Dramas hat einmal damit zu tun – wird an seiner Konstanz gegenläufig der Wechsel der Interpretationen besonders bewußt. Das Diadem ist das Medium, durch das sich alle Szenen miteinander verbinden, anders als bei Molière, der jede vorangehende lediglich durch die nachfolgende Szene komisch parodiert. An diesem festen Gegenstand wird der Wandel der Meinungen manifest; er ist in seiner ausgefallenen Besonderheit der Katalysator der Intention des Dramas überhaupt; diese ist: Darstellung eines infiniten Interpretierens. An diesem Gegenstand wird als transzendentale Leistung bewußt, was bei Molière unmittelbare, deshalb aber auch ‘nur’ komische, poetische Praxis war.
12Eine Problematisierung der komischen Inversion in der Komödie fehlt auch bei Molière nicht. Die Begegnung Sosies mit seinem Double Mercure droht über den Witz hinauszugehen und die Identität Sosies zu zerstören. Endlich aber rettet sich die komische Figur doch aus der Verwirrung durch die ihr übliche Gleichgültigkeit, die nichts weiter ist als der situationsgerechte Versuch, die nackte, physische Existenz zu erhalten: „Faisons en bonne paix vivre les deux Sosies“ (1766), sagt er zu Mercure, was Kleist so übersetzt:
„Lass die Sosias einverständig beide
Zu Tische sitzen, und die Becher heiter
Zusammenstoßen, daß sie leben sollen!“ (1987 ‑ 1989)
13Kleist arbeitet im folgenden die Molièresche Szene zu einer Schlacht um gutes Essen, um Brot, Wurst und Kohl aus. Daß Kleist hier, scheinbar der Tradition der Gattung, deren ‘leitende Prinzipien Phallos und Wanst sind, enger verbunden als Molière, so viel Mühe auf diese für ihn zunächst nebensächliche Szene verschwendet, liegt daran, daß ihm das Gesetz der Gattung bewußt geworden ist; und daß er den Kampf um die physische Existenz zugleich als Bedingung der Möglichkeit von Identität versteht; nicht umsonst übersetzt er „en bonne paix“, was sich negativ auf die Raufereien der Komödie bezieht, mit „einverständig beide“, was wörtlich genommen, die Reflexionsebene trifft. Die einzelnen Situationen des Dramas beziehen sich aufeinander und verzerren sich, deshalb müssen auch alle Szenen von relativ gleichem Gewicht sein, die Szenen des niederen Personals dürfen nicht mehr, wie bei Molière, rein quantitativ als Nebenszenen bestehen bleiben. Nach Kleists Ausarbeitung und Erweiterung korrespondiert die Szene gleichberechtigt der vorangehenden zwischen Mercure und Amphitryon, wo der Herr durch den falschen Diener als Hahnrei verspottet wird (II, 2) und der zwischen Jupiter und Amphitryon (II. 5); in beiden Szenen ist Amphitryon ebenso gefährdet wie Sosias, wenn es auch nicht sein nacktes Leben ist, um das er betrogen wird, sondern „Weib, Ehre, Herrschaft, Namen“(1924). Das Gleichgewicht der Figuren des hohen und niederen Stils macht die Identitätsproblematik universal. War sie bei Molière noch auf die Dienerebene beschränkt und damit zugleich als Spiel abgegrenzt und weniger gefährlich, so erfaßt sie nun alle Personen, so daß sich quasi die Rangunterschiede nivellieren, Amphitryon, der seinen Namen einbüßt, und Sosias, der sich seines Körpers, des Inbegriffs der ‘komischen Bestimmtheit’, nicht mehr vergewissern kann, vereinen sich im Leiden an ihrer verlorenen Identität. Die Konnexion der Personen stellt Sosias, wie bei Molière Sosie, her
„Und kurz ich bin entsosiatisiert,
Wie man Euch entamphitryonisiert.“ (2158f)
14Die Auflösung des Faktischen durch den wechselseitigen Kommentar der Szenen wird deutlich in der Zeugenschaft der Charis beim Verhör der Alkmene durch Jupiter. Bei Molière stehen Cléanthis und Sosie als Staffagen herum. Bei Kleist muß sich Jupiter, nachdem Alkmene den Betrug durch das vertauschte Zeichen bereits entdeckt hat, notwendig als der Verführer zu erkennen geben – eine gravierende Änderung gegenüber Molière, der die Entdeckung Jupiters für die Schlußszene als coup de théâtre aufspart. Damit wird Alkmene von der handelnden Figur, die sie bei Molière war, zu einer, die die Situation ausdeuten, die sich entscheiden muß und sich nicht entscheiden kann. Der Unentschiedenheit der Alkmene korrespondiert nun in der folgenden Szene das entschiedene Experiment der Charis. Im Unterschied zu Molière nützt sie nämlich ihr Wissen vom Besuch der Götter, indem sie ihren Sosias, das vorhergehende männlich‑strenge Verhör des Jupiter weiblich‑listig wiederholend, auf seine göttliche Herkunft prüft. Sie setzt sich der Herausforderung der Deutung aus, der sich Alkmenes Nichtbegreifen‑Wollen verweigert und läßt sich damit – da diese Szene eine Zutat Kleists zu Molière ist – auf die Problematik ihres Schöpfers besser ein als die Hauptfigur: auf die Unfaßbarkeit des Wirklichen und auf die Notwendigkeit einer intellektuellen Anstrengung gegen das Dunkel der faktischen Welt.
15Der Witz der Spiegelung der Szenen ineinander funktioniert bei Molière, wie überhaupt in der traditionellen Komödie, lediglich dadurch, daß das Publikum mehr weiß als die Figur auf der Bühne. Das Lachen des Zuschauers ist nicht zuletzt ein Lachen über die Dummheit der dramatischen Figuren, die sich für Individuen halten und doch nur Rollen sind, die sich in der begrenzten Enge einer Szene bewegen, über die sie nicht hinaussehen, Was Hegel die Unverwüstlichkeit der komischen Figur nannte, ist vom Standpunkt des Zuschauers, der das Ganze im Auge hat, ihre Borniertheit. ‑ Wenn Kleist im Unterschied zu Molière nun das Symbol, den Reif mit dem Zeichen des falschen Liebhabers, in die Handlung einführt, so hat dies in ihrem Verlauf die Aufgabe, Alkmene über ihre Lage aufzuklären: der fremde Namenszug macht deutlich, daß ihre eine und begrenzte Ehesituation durch eine fremde Figur sich in zwei unvereinbare Situationen zerlegt hat. Verliert sie mit der Borniertheit der komischen Figur, der Molièreschen getäuschten Unschuld, ihre Sicherheit, so gewinnt sie mit dem Bewußtsein ihrer Lage quasi eine Kenntnis oder zumindest Ahnung von dem Zusammenhang des Ganzen. Was bislang nur im Wissen des betrachtenden Zuschauers ruhte, wird nun im Bewußtsein der handelnden Dramenfigur selbst bewegt. Mit dem Zeichen des falsch signierten Diadems wird ein Indiz der Inversion der dramatischen Szenen ins Drama selbst hineinverlegt und zum Mitspieler. Das eindeutige Lachen des distanzierten Zuschauers verwandelt sich in die Verwirrung der in ihrem Handeln durch die Verdoppelung der Situation verunsicherten Figur; die Rolle wird zur Person, die Staffage zur problematischen Individualität. Damit verändert das Drama als Ganzes seinen Charakter, soll doch das Diadem geradezu das Prinzip des Komischen, die dauernde Inversion, in der Komödie selbst vergegenständlichen: die Komödie ist nicht mehr komisch, denn das Komische wird ihr Thema. Kleists Drama reflektiert das Komödienhafte als das Verwirrende, die Inversion als Zweideutigkeit, den Witz als Melancholie.
- 12 Vgl. dazu Jauss 1.c., S. 33: „Wenn Kleists ‘Amphitryon’ in dem Sinne die große Tragikomödie des Sel (...)
16Indem Kleist die Komödie auf den Begriff, ihre Struktur zur Erscheinung bringt, pflanzt er der traditionellen Gattung seinen Zweifel an der Gültigkeit des Fichteschen Prinzips des absoluten Ich ein12. Fichtes Überwindung des Kantschen Zweifels am Ding an sich durch die Tathandlung des absoluten Ich stellt Kleist in Frage, indem er die Konstanz der Situation als Bedingung der Möglichkeit von Identität postuliert. Sein erkenntnistheoretischer Vorschlag ist eine perfekte Umkehrung der Fichteschen Lösung, ein Grund, warum man Kleist leicht als den Dichter des ‘Nihilismus’ verstehen konnte. – Dies alles aber realisiert sich nicht als philosophische Idee, sondern als literaturhistorische Reflexion und Praxis. Die Konstellation jenes Jahrhunderts, in dem Poesie und Philosophie nahe aneinander grenzen, erlaubt die kühne Kontamination, daß ein erkenntnistheoretisches Problem eine Antwort in einer formtheoretischen Einsicht findet, die einer poetischen Praxis entspringt.
17Wenn heute die Interpreten allgemein in Molières Komödie das Problem der Identität herausarbeiten, so ist dies keine Auslegung im Sinne des 17. Jahrhunderts. Jauss’ Deutung des Molièreschen Amphitryon als einer poetischen Darstellung der cartesianischen Philosophie ist sicher zutreffend. Doch scheint mir seine Aufmerksamkeit auf das Problem der Identität durch Kleist geschärft zu sein, zumal er es mit dem Gedanken einer totalen Verwirrung der Welt verbindet:
- 13 Jauss l.c., S. 20.
„Setzt man Jupiter in der Maske des Amphitryon als täuschenden Gott in Descartes’ Hypothese ein, so läßt der genius malignus nicht allein den vertrauten Anblick der Welt in äußerste Befremdung, Mißtrauen und Illusion umschlagen, sondern erschüttert zugleich die letzte Bastion des Descarteschen Rationalismus: daß sich im Cogito das Ich seiner selbst immer gewiss bleiben soll.“13
- 14 Ibidem.
18Abgesehen von der Kontinuität der abendländischen Philosophie, in deren Diskurs Fichtes absolutes Ich letztlich auch eine Antwort ist auf den cartesischen Zweifel, der in Kants Erkenntniskritik wiederaufgenommen war, scheint mir bei Molière gerade durch den ‘genius malignus’ Jupiter die Welt erst wieder in Ordnung gebracht zu werden. Die noch gültige Komödien-Tradition gebietet mit dem Abgang der Götter und der Geburt des Herakles ein Ende, das die Welt intakt hält. Genius malignus ist Jupiter nur für den zeitweise verwirrten Menschenverstand, letztlich aber ist er doch nur ein Spitzbube und mit seinem Auftreten auf dem Theater endet auch sein Auftritt in der Welt. Alkmene vor allen, jedoch auch die anderen dramatis personae bleiben als getäuschte und wieder aufgeklärte Menschen zurück. Bei Kleist hingegen findet die Aufklärung bereits in der ersten Hälfte des Stückes statt, die Figuren jedoch ‘bewältigen’ sie nicht. Gerade daß sie sich mit der göttlichen Offenbarung hoffnungslos konfrontiert sehen, zeigt zugleich deren absolute Funktionslosigkeit für die Organisation der menschlichen Welt. Das nicht deutende und undeutbare „Ach“ der Alkmene als Abschluß des Dramas läßt die Problematik anders bei den Menschen als Molières konventioneller Epilog der komischen Figur. Kurz: die „komische Aporie“14, die Jauss an Molière bemerkt, ist erst aus der Perspektive Kleists zu bemerken.
19Es ist keine Überspitzung des Gedankens, sondern schließt an den Entwurf Friedrich Schlegels von einer in unendlicher Rezeption sich fortdichtenden Poesie an, wenn man in diesem Fall im Dichter den Literaturhistoriker entdeckt. Und nicht nur Friedrich Schlegel könnte Bürge sein für die Einheit von Dichter und Interpret, von Schöpfer und Historiker, auch Hegels geschichtsphilosophisches Modell der Entfaltung des menschlichen Geistes enthält den Gedanken, daß die schöpferische Kunstproduktion im philosophischen Zeitalter der Moderne abgelöst werde von der Kunstwissenschaft, also von einer reflektierenden Rezeption vergangener Kunst. Dies schließt nicht aus, daß an dieser Rezeption der Schriftsteller selbst sich beteilige. Ein Vergleich der beiden Komödien sollte deshalb auch nicht eine weitere Detaillierung in der Reihe der unzähligen Vergleiche, die die Literaturwissenschaft bereits geliefert hat, hinzufügen. Vielmehr versucht sie, ein grundsätzlich neues Verhältnis der bürgerlichen Literatur zu Tradition sichtbar zu machen: das der reflektierenden Adaption, in der die Dichter zu Vorläufern der Literaturwissenschaftler werden.
Notes
1 Johann Wolfgang Goethe, Weimarer Ausgabe, Abt.III, Band 3, Weimar 1889, S. 239 (Tagebuch).
2 Friedrich Schlegel, Über Goethes Meister, in: Kritische Friedrich‑Schlegel ‑Ausgabe, hsg. von Ernst Behler, Band 2, München 1967, S. 140.
3 Peter Szondi, Amphitryon, Kleists ‘Lustspiel nach Molière’, in: Szondi, Satz und Gegensatz, Frankfurt 1964, S. 50.
4 Hans Robert Jauss, Poetik und Problematik von Identität und Rolle in der Geschichte des Amphitryon (Typoskript, erscheint in: Poetik und Hermeneutik 8).
5 Max Kommerell, Die Sprache und das Unaussprechliche, in: Kommerell, Geist und Buchstabe der Dichtung, 5.Auflage, Frankfurt 1962, S. 243 ‑ 317.
6 Szondi 1.c., S. 52.
7 Ibidem, S. 56.
8 Vgl. dazu Ernst Cassirer, Heinrich von Kleist und die Kantische Philosophie, in: Cassirer, Idee und Gestalt, Berlin 1921, der nachweist, daß das sogenannte Kanterlebnis in Wahrheit aus einer Lektüre von Fichtes «Bestimmung des Menschen» (erschienen 1801) resultiert.
9 Ich zitiere mit der Verszahl nach der Ausgabe Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, hsg. von Helmut Sembdner, 2 Bände, Darmstadt 1970.
10 Vgl. dazu Jauss l.c., S. 31: die Frage der Identität müsse sich „nicht mehr an der Instanz des Selbstbewußtseins, sondern an der Instanz des Du, d.h. an jener Gewißheit seiner Selbst entscheiden […] die das Subjekt allein in der Beziehung zu einem anderen Subjekt findet.“
11 Ich zitiere mit Verszahlen nach der Ausgabe, Molière, Oeuvres complètes, Band 3, hsg. von Georges Mongrédien, Paris 1965.
12 Vgl. dazu Jauss 1.c., S. 33: „Wenn Kleists ‘Amphitryon’ in dem Sinne die große Tragikomödie des Selbstbewußtseins genannt werden kann, daß hier das Selbst als Bewußtsein der Angewiesenheit auf den Andern ins Spiel gebracht wird, muß dann das so gestellte Problem der menschlichen Identität nicht auch die Identität des absoluten Ich berühren?“ ‑ Die Arbeit am Amphitryon beginnt 1803, zwei Jahre also nach dem sogenannten Kantererlebnis (vgl. Anm. 7), welches ihn nach Paris geführt hatte, wo er sich mit der französischen Literatur intensiver beschäftigt haben wird.
13 Jauss l.c., S. 20.
14 Ibidem.
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